… Aktueller Überblick leuchtet Gründe für und Strategien gegen die geschlechtsspezifische Entgeltlücke aus
Der Fortschritt ist bisweilen eine Schnecke – besonders in Sachen Geschlechtergleichheit. Wie weit der Weg dahin auf dem deutschen Arbeitsmarkt noch ist, welche Hindernisse es gibt und wie sie sich überwinden lassen, hat die Wirtschaftswissenschaftlerin und Beraterin Dr. Andrea Jochmann-Döll analysiert. Ihr neuer, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderter Bericht gibt einen aktuellen Überblick. Dafür hat Jochmann-Döll Literatur ausgewertet sowie die Verantwortlichen für Frauen- und Gleichstellungspolitik des DGB und der Mitgliedsgewerkschaften befragt. Ihr Bericht ist Teil eines Projekts zum Stand der Entgeltgleichheit in den nordischen Staaten und in Deutschland, das der Rat der nordischen Gewerkschaften, die Friedrich-Ebert-Stiftung und der DGB initiiert haben. Ziel: Durch Beispiele guter Praxis zeigen, wie sich die Lohnlücke schließen lässt und daraus Empfehlungen für die nationale und europäische Politik ableiten. „Die Studie macht deutlich, dass Entgeltgleichheit von Frauen und Männern kein Wunschtraum ist, denn es gibt erprobte Mittel gegen Lohnungleichheit“, so Christina Schildmann, Leiterin der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. „Doch der Weg dorthin ist vielerorts noch weit.“
Der Gender Pay Gap ist der Auswertung zufolge in Deutschland „im Vergleich zu anderen europäischen Ländern konstant hoch“, 2022 entsprach der Abstand zwischen den Geschlechtern beim durchschnittlichen Stundenlohn 18 Prozent oder 4,46 Euro. Als eine Ursache für die klaffende Lohnlücke macht Jochmann-Döll unzureichende gesetzliche Regelungen und fehlende Sanktionen aus. Das Entgelttransparenzgesetz, das seit 2017 in Kraft ist, habe nur wenig gebracht; einer Evaluation zufolge ist es nur einem Drittel der Beschäftigten bekannt, nur vier Prozent haben ihr Recht auf individuelle Auskunft bislang in Anspruch genommen. Grundsätzlich spiegele die geschlechtsspezifische Bewertung von Arbeit hartnäckige stereotype Überzeugungen wider, die unter anderem dazu führen, dass soziale oder Sorgeberufe, in denen viele Frauen arbeiten, bei der Bezahlung trotz einiger Verbesserungen in den vergangenen Jahren immer noch unterbewertet sind. Hinzu komme, dass sinkende Tarifbindung und fehlende Mitbestimmung zu intransparenten Entgeltstrukturen führen, die den Nachweis von Diskriminierung erschweren.
Die Autorin illustriert anhand von „Beispielen guter Praxis“, was zu mehr Lohngerechtigkeit beitragen könnte. Sinnvoll sind demnach zum einen Aktionen zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit wie der „Equal Pay Day“ oder der „German Equal Pay Award“. Von den Bundesländern tut sich etwa Bremen durch die „Landesstrategie für Gendergerechtigkeit und Entgeltgleichheit“ hervor, Hessen und Nordrhein-Westfalen durch einen „Lohnatlas“ mit geschlechtsspezifischen Daten. In der betrieblichen Praxis können kostenlose Prüfinstrumente wie der „Entgeltgleichheits-Check“ helfen, der mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung entwickelt wurde. Dass die Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen, belegt unter anderem die „Initiative Lohngerechtigkeit“ der NGG. Ein Ergebnis ist die neue Entgeltstruktur für das Bäckerhandwerk in Berlin-Brandenburg, in der erstmals die männerdominierte Berufsgruppe der Bäcker*innen und die frauendominierte Gruppe der Verkäufer*innen gleichgestellt sind.
Eine weitere Dimension der Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt sei die „sektorale Segregation“, schreibt Jochmann-Döll. Sie verweist auf eine WSI-Studie von 2023, der zufolge in acht von 16 Sektoren des produzierenden Gewerbes sowie der Land- und Forstwirtschaft die Beschäftigten zu mehr als 70 Prozent Männer sind. Die einzigen drei frauendominierten Sektoren – das Gesundheitswesen, das Sozialwesen sowie der Bereich Erziehung und Unterricht – gehören zu den Dienstleistungen. Von 14 Berufssegmenten waren 2022 sieben männerdominiert. Auf einen Frauenanteil von mehr 70 Prozent kamen drei: die Gesundheitsberufe, soziale und kulturelle Dienstleistungsberufe sowie Reinigungsberufe. Seit 2013 hat sich an dieser Unwucht wenig geändert. Auch in der Berufsausbildung zeichnet sich kein Umbruch ab: Bei den MINT-Berufen betrug der Frauenanteil 2021 elf Prozent, im Gesundheits- und Sozialwesen 89 Prozent.
Verantwortlich für diese Situation sind dem Bericht zufolge unter anderem vorherrschende Geschlechterbilder, die die Berufswahl beeinflussen. Frauen in atypischen Berufen würden oft diskriminiert und hätten laut einer aktuellen Studie sogar schlechtere Karten auf dem Dating-Markt. Auf Seiten der Unternehmen kämen Vorurteile in vielen Stellenanzeigen oder Einstellungsverfahren zum Ausdruck. Auch in dieser Hinsicht sei die Erosion des Tarifsystems ein Problem: Wenn alte Tarifverträge mit historischen Stellenbeschreibungen weiter gelten, würden Stereotype reproduziert.
Zu den vorbildlichen Gegenmaßnahmen zählt die Expertin den „Girls‘ Day“, der Mädchen ermöglicht, männerdominierte Berufe kennenzulernen, den analogen „Boys‘ Day“ sowie die „Initiative Klischeefrei“, ein vom Bundesfamilienministerium ins Leben gerufenes Bündnis unter anderem von Ministerien, Unternehmen, Gewerkschaften und Schulen. Auch dass Informatik in diversen Bundesländern mittlerweile Pflichtfach ist, könnte der Segregation bei der Berufswahl entgegenwirken.
Ungleichheit zwischen den Geschlechtern herrscht laut der Analyse auch bei den familiären Verpflichtungen: Laut Daten des Statistischen Bundesamtes von 2022 kommen Frauen im Schnitt auf knapp 30 Stunden pro Woche, die sie mit unbezahlter Arbeit im Haushalt, Kindererziehung oder der Pflege von Angehörigen verbringen, Männer auf 21 Stunden. Der Gender Care Gap entspricht damit etwa 44 Prozent, zehn Jahre zuvor waren es gut 52 Prozent.
Neben stereotypen Einstellungen zu Haushalt und Pflege trage auch die Lohnlücke zu diesem Missstand bei, erklärt Jochmann-Döll. Sie lasse es vielen Paaren wirtschaftlich vernünftig erscheinen, dass die Frau den Löwenanteil der Sorgearbeit übernimmt und dafür beruflich kürzertritt. Hinzu kämen Defizite bei der institutionellen Kinderbetreuung – 2023 fehlten rund 400000 Kita-Plätze und 125000 Fachkräfte in diesem Bereich – und das Ehegattensplitting, das große Einkommensunterschiede bei Paaren belohnt.
Gegensteuern ließe sich der Wissenschaftlerin zufolge mit Kampagnen wie dem „Equal Care Day“ sowie mit der im Koalitionsvertrag angekündigten „Familienstartzeit“, die nach der Geburt eines Kindes unabhängig von der Elternzeit Freistellungen vorsieht. Auch die Tarifpolitik könne einen Beitrag leisten: Die IG Metall etwa habe 2018 für die Beschäftigten der Metall- und Stahlindustrie eine Wahlmöglichkeit zwischen mehr Geld oder mehr Urlaub ausgehandelt. Die EVG habe Regelungen unter anderem zu familienfreundlicher Arbeitszeitgestaltung und Chancengleichheit von Beschäftigten mit familiären Verpflichtungen durchgesetzt.
Zuletzt geht der Bericht auf die „gläserne Decke“ in deutschen Firmen ein. Mit 29 Prozent Frauenanteil in Führungspositionen lag Deutschland 2022 unter dem EU-Schnitt. In den Vorständen der Top-200-Unternehmen beträgt der Anteil 18 Prozent. Lediglich in den Aufsichtsräten ist er höher, weil hier zum einen eine gesetzliche Quote gilt und zum anderen die Gewerkschaften in mitbestimmten Unternehmen traditionell Wert auf mehr Geschlechtergleichheit legen.
Als Hindernisse, mit denen Frauen auf dem Weg in die Chefetage rechnen müssen, nennt Jochmann-Döll verbreitete Klischees, denen zufolge Führungskompetenz und strategisches Denken Männerdomänen sind. Das Bild der idealen Arbeitskraft orientiere sich nach wie vor an traditionell männlichen Erwerbsbiografien. Zudem gebe es in vielen Konzernen Männer-Netzwerke, die die Karrieren von Geschlechtsgenossen fördern.
Auf ein Durchbrechen der gläsernen Decke ziele unter anderem die Initiative „Frauen in die Aufsichtsräte“ ab, heißt es in der Analyse. Auch freiwillige Frauenquoten bei Gewerkschaften und einzelnen Unternehmen seien begrüßenswert, ebenso Programme für mehr Teilzeit in Führungspositionen bei einigen Konzernen.
Alles in allem stelle die systematische Unterbewertung frauendominierter Berufe und Branchen das größte Hindernis auf dem Weg zu mehr Geschlechtergleichheit auf dem Arbeitsmarkt dar, so Jochmann-Döll. Um Abhilfe zu schaffen, bedürfe es unter anderem einer Stärkung der Tarifbindung. Die Bundesregierung müsse das Entgelttransparenzgesetz vollumfänglich an die Vorgaben der EU anpassen. Es gelte, die Sichtbarkeit von Frauen in männerdominierten und von Männern in frauendominierten Berufen zu erhöhen, damit Jugendliche sich an Vorbildern orientieren können. Das Ehegattensplitting sollte abgeschafft, das Elterngeld vom individuellen Einkommen entkoppelt und mit mehr verpflichtenden Partnermonaten verbunden werden. Zusätzlich empfiehlt die Autorin, die Familienstartzeit umsetzen, die Betreuung von Kleinkindern zu verbessern, eine Entgeltersatzleistung für pflegende Beschäftigte einzuführen, die Quotenvorgaben für Führungspositionen auszubauen und auf mehr Teilzeit im Management hinzuwirken.